Medizinnobelpreis 1913: Charles Robert Richet

Medizinnobelpreis 1913: Charles Robert Richet
Medizinnobelpreis 1913: Charles Robert Richet
 
Der französische Physiologe wurde »in Anerkennung seiner Arbeiten über die Anaphylaxie« mit dem Nobelpreisausgezeichnet.
 
 
Charles Robert Richet, * Paris 26. 8. 1850, ✝ Paris 4. 12. 1935, 1877 Promotion zum Dr. med. und 1878 zum docteur des sciences, anschließend professeur agrégé, 1887-1927 ordentlicher Professor für Physiologie an der medizinischen Fakultät der Universität in Paris; über das Hauptarbeitsgebiet Physiologie hinaus vielseitige psychologische, politische sowie literarische Publikationen.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Am 10. Februar 1902 war im physiologischen Labor der Universität Paris bei Tierversuchen zur Giftigkeit von Seeanemonen ein kräftiger Hund überraschend von heftigen und in kurzer Zeit tödlichen Reaktionen befallen worden, obwohl er Tage zuvor weit höher dosierte Injektionen desselben Gifts schon mehrfach unbeschadet überstanden hatte. Dieses plötzlich und vollkommen unerwartet eintretende Ereignis war Anlass für Charles Robert Richet, sofort eine bedeutende Neuentdeckung anzunehmen und dafür das Kunstwort »Anaphylaxie« zu prägen, womit er das Gegenteil von Prophylaxe oder Immunität bezeichnet hat. Im Deutschen ist zwar das Wort »Allergie« allgemein gebräuchlicher, doch auch hier wird der Begriff des »anaphylaktischen Schocks« nach der Erstbeschreibung zugrunde gelegt. Dagegen waren »Überempfindlichkeiten« oder »Idiosynkrasien« in Medizin und Laborversuchen bis dahin immer wieder beschrieben worden, jedoch ohne weitergehende Schlüsse zu ziehen. Selbst Richet und sein Assistent Paul Portier hatten bei ihren Versuchsreihen gelegentlich Überreaktionen beobachtet, diese aber auf eventuelle Verwechslungen in ihren Versuchsreihen zurückgeführt.
 
 Der anaphylaktische Schock
 
Denn nach der traditionellen Lehre waren für den Fall wiederholter Gaben desselben Gifts nur zwei Möglichkeiten denkbar: Entweder dieselbe Dosis rief dieselbe Reaktion hervor, oder infolge einer Gewöhnung oder Immunisierung könnten die Reaktionen auf spätere Giftgaben vermindert sein. Nun hatte Richet die paradoxe dritte Möglichkeit einer gesteigerten Empfindlichkeit nach einer gewissen Zeitspanne nachgewiesen, deren Symptome von denen der primären Vergiftung durchaus verschieden sind und sich sehr ähnlich darstellen, wenn sie durch verschiedene Gifte oder sogar durch sonst harmlose Substanzen ausgelöst werden.
 
Im Anschluss an seine Erstbeschreibung 1902 hatte Richet selbst weiter auf diesem Gebiet geforscht und einen möglichen Übertragungsweg als »passive Anaphylaxie« durch Injektion beschrieben. Das Phänomen wurde durch zahlreiche systematische Laborforschungen in aller Welt bestätigt und erweitert. 1912 erschien Richets großes zusammenfassendes Werk über die Anaphylaxie, das durch die Nobelpreisverleihung 1913 gewürdigt wurde; doch auf diesem Gebiet erlahmte Richets Forschungstätigkeit durch den Ersten Weltkrieg.
 
Das Konzept der Anaphylaxie hat bis heute vielfache grundlegende Anwendungen erfahren, von allergologischen Problemen im Bereich der Atemwegs- oder Hauterkrankungen über immunologische und toxikologische Grundlagenforschung bis hin zur allgemeinen Diagnostik in Pathologie und Serologie. Für die Zeitgenossen hatte zunächst die Vermeidung der »Serumkrankheit« (Komplikationen bei Serumtherapie) im Vordergrund gestanden. Denn in Anlehnung an die erfolgreichen Impfungen erhofften sich frühe Bakteriologen, wie der Franzose Louis Pasteur, Robert Koch (Nobelpreis 1905) oder Emil Adolf von Behring (Nobelpreis 1901), eine Immunisierung durch Injektionen von Blutserum bereits Immunisierter, zum Beispiel gegen Diphtherie. Jedoch riefen diese Therapien häufig anaphylaktische Reaktionen bis hin zum lebensgefährlichen Schock hervor, die selbst von namhaftesten Wissenschaftlern beschrieben wurden, ohne dass sie hierin ein eigenes forschungswürdiges Phänomen zu entdecken vermochten.
 
 Ein paradoxes Phänomen und sein Entdecker
 
Richet verfasste 1877 nach Experimenten zur Muskelphysiologie von Krebsscheren seine medizinische Dissertation über Empfindungsvermögen und Schmerz; für eine Arbeit zur Hirnforschung erlangte er eine außerordentliche Professur für Physiologie und widmete sich dann ganz seinen Forschungsinteressen: Neben tausenden von systematischen Versuchsreihen zur Milchgärung basierte seine Arbeit auf Tierversuchen, etwa zum Nervensystem oder zu Wärmehaushalt und Abkühlungsmechanismen wie »Polypnoe« (Hecheln bei Hunden), wobei er die Betäubung durch Einführung der »Chloralose« verbesserte. In der Humanmedizin konnte Richet Erfolge in der Epilepsieprophylaxe erzielen und in der Tuberkulosebekämpfung durch seine »Zomotherapie« (mit Extrakten aus rohem Fleisch). Jahrzehntelange Forschungen zur Serumtherapie gegen Tuberkulose oder Krebs blieben dagegen erfolglos. Immerhin wurde die erste therapeutische Seruminjektion am Menschen am 6. Dezember 1890 von Richet unternommen. Albert I. von Monaco bat den renommierten Pariser Universitätsprofessor 1901 um Hilfe bei der Erforschung der für den Badebetrieb gefährlichen Giftwirkung von Meerestieren. Allerdings lieferte die aufwendige marine Expedition zunächst keine Ergebnisse. Für die Fortführung des Forschungsprogramms in Paris musste Richet improvisieren und dieselben Versuchshunde mehrfach nutzen, wodurch die Entdeckung des anaphylaktischen Schocks erst möglich wurde.
 
Richet hatte sich früh einen Namen gemacht als Publizist zu grenzwissenschaftlichen Themen wie Somnambulismus (Schlafwandeln), für die er die Bezeichnung »Metapsychik« prägte. Er beteiligte sich an Experimenten französischer Luftfahrtpioniere und verfasste erfolgreich antikisierende Dramen, zahlreiche Gedichte sowie Fabeln und Romane, einen Abriss der Weltgeschichte und autobiografische Werke, wobei sein politisches Engagement für Menschenrechte und Pazifismus charakteristisch ist. Eine internationale Diskussion entbrannte über seinen Vorschlag, die Solidarpathologie als Grundlage der modernen Medizin durch eine neue Humoralpathologie (Säftelehre) zu ersetzen. Als pragmatischer Physiologe bekannte sich Richet zum »Finalismus«, um den Beitrag der Organe zum »Lebensoptimum« zu ergründen. Doch die Autoaggression des Immunsystems passte gar nicht in dieses Konzept, die unbedingte Abwehr körperfremder Eiweißstoffe erschien Richet nur zugunsten der Identität der Rasse denkbar. Die ganz persönliche Identität des Individuums aber sei nicht nur durch das psychische Erinnerungsvermögen, sondern ebenso durch seine individuelle Chemie bestimmt, deren Veränderungen von den Reaktionen des zunehmend spezifischen Immunsystems auf Umwelteinflüsse herrühren.

Universal-Lexikon. 2012.

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